Der “Engel der Kulturen”

Es gibt hierzulande Menschen, die Angst haben vor einer „Islamisierung des Abendlandes“. Und es gibt Menschen, die Angst haben vor aggressiven nationalistischen Kräften, die eigene Erfahrungen von Scham, Ungerechtigkeit, psychischer und materieller Not usw. nur zu gern auf Feindbilder projizieren. Der/die/das „Fremde“ eignet sich bekanntlich besonders gut als Projektionsfläche.

Ich gehöre auch dazu. Denn auch ich neige immer wieder dazu, alles das, was ich bei mir und in mir nicht wahr-nehmen und wahr-haben möchte, nach „außen“ (wo bitte ist „außen“?) zu verlagern: Ich bin doch nicht…. (fremdenfeindlich, scham- und hasserfüllt, gewalttätig, unreflektiert Schuld zuweisend, ideologisch-starrköpfig). Das sind doch nur die anderen. Wirklich?

Auch ich meine oft genug, genau zu wissen, wo’s langgeht. Eingebunkert in meinen richtigen Ăśberzeugungen und durch den Zusammenschluss der Gleichgesinnten gestärkt, bestätige ich mir dann, wie recht ich doch habe, beruhige meine Angst und meine Zweifel und wandle sie um in Zorn und (latente) Gewalttätigkeit. Und kann in diesem Moment nicht erkennen, wie tief verstrickt ich in das uralte endlose Täter-Opfer-Spiel bin. Ich habe doch gar nicht angefangen. Ich habe gelitten, bin verletzt worden, in meiner WĂĽrde beschädigt – niemand muss sich wundern, dass ich reagiere und andere leiden mache, andere verletze und in ihrer WĂĽrde beschädige. Mein Hass ist doch nur zu gerechtfertigt.

Diese Dynamik treibt den endlosen täglichen Kleinkrieg genauso wie die wahnwitzigen Grausamkeiten im Weltgeschehen.
Tief bewegt hat mich die Aussage des jüdischen Künstlers Jehuda Bacon, der als 14-Jähriger lebend aus Auschwitz herauskam und seinen Erfahrungen in Kohlezeichnungen und Gemälden Ausdruck verlieh. In einem Fernsehinterview sagte dieser alte Mann mit den großen Augen sinngemäß: Wer dem Leiden so ins Gesicht geschaut hat, kann darunter eine Liebe fühlen, in der alle eins sind, und wo ich der bin, der die anderen Menschen leiden macht und wo ich der bin, der leidet. Eine Erfahrung menschlicher Verbundenheit, die jenseits der Erfahrungen von “Täter“/“Opfer“-sein angesiedelt ist und die ich dem alten Jehuda Bacon glauben kann.

Da ist er dann, dieser plötzliche Shift der Aufmerksamkeit in den freien Raum zwischen den eingekerbten Metallteilen, in eine Tiefe, aus der eine Einheit leuchtet.

Der 1981 ermordete ägyptische Präsident Anwar-el-Sadat hatte die Vision, dass Frieden zwischen Juden, Christen und Moslems möglich werden könnte, wenn sie nur ihre gemeinsamen Wurzeln ehren könnten. Und dass dies die Grundlage für einen Weltfrieden sein könnte. Vordergründig betrachtet, sieht es nicht danach aus, als ob sich seither in dieser Hinsicht viel bewegt hat. Oder doch? Wer weiß das schon so genau?

Bitte beachten Sie zum Beispiel die Aktivitäten der „abrahamic reuinion“ Hier engagieren sich Juden, Christen und Moslems gemeinsam fĂĽr den Frieden im Heiligen Land. Ein Höhepunkt ist z.B. der jährlich stattfindende „Jerusalem Hug“, eine Menschenkette an der Klagemauer. Oder der Film “Crescendo”. Kleine Ereignisse mit groĂźer Wirkkraft.

Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang auch an das bekannte buddhistische Zitat, das der im Dezember 2014 verstorbene Atomphysiker Hans-Peter DĂĽrr so gern benutzte: “Ein Baum, der fällt, macht mehr Lärm als ein Wald der wächst.” Mit all meinen Ă„ngsten, Schmerzen, meiner Wut und Ohnmacht angesichts des täglich die Nachrichten fĂĽllenden weltweiten Irrsinns möchte ich tiefer in mir die Verbindung fĂĽhlen und halten, die mich zu einem Winzling des „wachsenden Walds“ macht.
Die tiefe Verbindung mit meinen biografischen, ethnischen und spirituellen Wurzeln ist mein Beitrag zum Weltfrieden. Und je tiefer ich mich auch in die Dunkelheit meiner eigenen Geschichte (Mann, deutsch, christlich, evangelisch) hineinsinken lasse, tiefer und noch tiefer, desto mehr werde ich zu einem Teil des „Waldes der wächst“.

Jenseits dieser gerade so noch fassbaren und erlebbaren Wurzeln kann dann – zumindest in Bruchstücken – jene Dimension berührt werden, wo sogar die Form des „Engels“ sich auflöst und wo nichts alles und alles nichts ist. Eine nicht emotionale Liebe, die in der Stille wurzelt.

Das ist Frieden.

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