Gendlin über Focusing

“Was ich selber Focusing nenne, ist, wenn man eine gewisse Zeit ‑ eine Minute oder eine Sekunde oder zehn Minuten mit etwas ist, das man körperlich spürt, und dabei weiß man genau, dass dieses körperliche Gefühl mit etwas im Leben zu tun hat. Das körperliche Gefühl kann sich vielleicht auf die Vergangenheit beziehen, es kann von jetzt sein, ja, man kann vielleicht sogar nicht einmal genau wissen, worauf es sich bezieht. Aber man spürt, es hat etwas zu tun mit einer Situation oder mit dem Leben; es kommt nicht daher, dass mein Gürtel zu eng ist oder dass ich zu viel gegessen habe. Es kann sich vielleicht so anfühlen, aber man weiß von innen, dass es noch mit irgendetwas anderem zu tun hat. Gewöhnlich weiß man, womit es zu tun hat, aber das körperliche Gefühl hat immer irgendeine Bedeutung dabei, die man noch nicht kennt.
Ich lenke also meine Aufmerksamkeit auf das Gefühl in meinem Körper, und ich bleibe dabei und sage mir: “Also, was ist denn das?” ‑ und diese paar Minuten, die ich darauf verwende, das nenne ich Focusing. Man kann so ein körperliches Gefühl zu jeder Sache bekommen, auch wenn man es am Anfang nicht gleich hat Man kann alles mögliche über eine Situation denken, immer aber hat man gleichzeitig noch ein körperliches Gefühl zu dieser ganzen Situation. Dieses körperliche Gefühl ist ein guter Führer. Ich nenne es „Felt Sense“.
Der Felt Sense kommt aber selten von selber. Mit Focusing kann man in ein paar Minuten oder manchmal auch in einem Moment einen Felt Sense bekommen, und zwar zu jeder Sache: zu irgendeiner kleinen Sache oder zu einer Idee oder zu einer Situation oder zu einem anderen Menschen oder zu etwas, das man tun will, oder zu was immer es ist.
Die Zeit, die man darauf gibt, mit etwas zu verbleiben, das nicht klar ist, aber sicher mit etwas zu tun hat, die nenne ich Focusing. Und das öffnet dann eine ganze Menge verschiedener Dinge. Es kommen dann kleine Schritte der Änderung, es öffnet sich alles Mögliche, und man findet eine Menge heraus, aber das nenne ich nicht mehr Focusing. Das ist dann schon das, was durch Focusing kommt. Focusing nenne ich die Zeit, die man darauf gibt, mit etwas, das körperlich da, aber von innen noch nicht bekannt ist, zu sein.”

Aus E.T.Gendlin und J.Wiltschko: Focusing in der Praxis, Pfeiffer bei Klett-Cotta 1999, Seite 13 f.

Eugene (“Gene”) Gendlin


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